Als Bundeskanzler Olaf Scholz nach Kriegsbeginn in der Ukraine das Wort von der „Zeitenwende“ in die Runde warf, ist ihm – respektive seinem Redenschreiber – eine bemerkenswerte rhetorische Attacke gelungen. Mit einem Mal war dieser Begriff, der etwas bezeichnet, was vielfältig ist und auf lange Prozesse verweist, neu fokussiert, nämlich auf eine singuläre Erscheinung: Die Zeitenwende war der Krieg. Aus einem Wort wurde ein Narrativ, ein Erzählmuster. Sofort war allen die Botschaft klar: Nichts ist mehr, wie es früher war. Uns wurde etwas aufgezwungen, was wir nicht gewollt haben Wir werden in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten und Opfer bringen müssen. Aufrüstung ist angesagt im grossen Stil. Wir müssen uns auf das transatlantische Bündnis zurück besinnen. Etc. etc.
Andere historische Gegebenheiten, auf die mit mehr Recht der Ausdruck „Zeitenwende“ angewendet werden könnte, waren durch dieses Narrativ mit einem Schlag erledigt: Die Klimakrise? Zurückgestellt. Chinas Aufstieg zur Supermacht? Ausgeblendet. Angriffskriege der USA? Unterschlagen. Der Neo-Nationalismus, der Brexit, die faschistoiden Tendenzen in vielen Staaten der EU? Darüber reden wir ein anderes Mal. Es war die Stunde der grossen Komplexitätsreduktion, der Monokausalität. Die Parole hiess Putin. Putin hat das Völkerrecht gebrochen, Putin gefährdet die Demokratie, Putin ist Hitler.
Inzwischen sind neun Monate vergangen, und wir haben – hoffentlich – wieder etwas zu unterscheiden gelernt. Beispielsweise haben viele Amerikanerinnen und Amerikaner verstanden, dass die Midterm-Wahlen von dieser Woche eher das Potential zur Zeitenwende gehabt hätten, weil sie eine grössere Gefahr für die Demokratie darstellten als Putins Krieg.
Das erste, womöglich voreilige Fazit lautet: Wir sind noch einmal davongekommen.
Ein Grund zur Entspannung ist das aber nicht. Dass die von Grossmaul Trump angekündigte „rote“ Welle ausgeblieben ist, mit der er seine Vasallen in die Mandate schwemmen wollte, schafft nur neue Gefahren. Beispielsweise hat in Florida der Republikaner Ron DeSantis das Rennen um den Gouverneursposten gemacht, ein Typ, von dem der "New Yorker" schreibt, er sei der „Trump mit Hirn“. Beruhigung geht anders.
Wir leben in einer Zeit der schleichenden Unterwanderung von Demokratie. An zwei Geschichtsstunden sollten wir uns erinnern. Die erste: Vor 1789 (vor der Französischen Revolution) war die Gesellschaft von einer ständischen Ordnung beherrscht, die 95 Prozent der Menschen keinerlei Mitbestimmung einräumte. Mit den Verfassungen, die in der Folge entstanden, änderte sich das. Das 19. und 20. Jahrhundert und speziell die Zeit nach den beiden Weltkriegen waren gekennzeichnet durch einen geradezu stürmischen Zugewinn an Demokratie, Freiheit und Wohlstandsvermehrung für sehr viele Menschen.
Die zweite: 1980 kam die Wende. Margreth Thatcher in England, Ronald Reagan in den USA und viele Nachahmer waren nicht am sozialen Wohlstand, sondern an der Freiheit der Konzerne interessiert. Plötzlich war der Staat der Feind. Eine beispiellose Privatisierungswelle setzte ein. Die Post, das Fernmeldewesen, der öffentliche Verkehr, die Gesundheit, die Bildung, der Strafvollzug, die öffentliche Sicherheit - insbesondere im angelsächsischen Bereich geriet alles unter den Hammer, womit Geld gemacht werden kann. Unter dem Titel "Neoliberalismus" wurde eine Steuerpolitik Mode, welche die Konzerne und die obersten Schichten der Bevölkerung begünstigte und die soziale Schere jäh aufriss. Viel schneller, als die Kurve der Demokratisierung gestiegen war, fiel sie jetzt wieder ab.
Wie weit? Bis zur Abschaffung der Demokratie, also bis zum Punkt, wo die Menschen wieder entmündigt wären wie vor 1789?
Als 1989 das Imperium der Sowjetunion zusammenbrach (was der Westen als «The End of History» feierte), begannen in den USA die Neokonservativen die politischen Rechte der Bürger zu beschneiden; 9/11 bot den geeigneten Anlass. Weil das Wahlrecht nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden durfte, tat man es indirekt: durch Kürzung der sozialen Wohlfahrt, durch Verkümmerung der öffentlichen Bildung, durch Prekarisierung grosser Teile der Bevölkerung. Politische Prozesse wurden mit digitalen Mitteln beeinflusst, Wahlkreise wurden zurechtgeschustert, ganze Bevölkerungsteile wurden mittels Marihuana-Gesetzgebung kriminalisiert, um deren politische Rechte kassieren zu können.
Die Klientelpolitik der libertären Staatsfeinde bei schamloser Desinformation der Bevölkerung und Abwesenheit sämtlicher moralischen Skrupel ist vielerorts geblieben. Dem sagen wir Trumpismus. Das System geht weit über seinen Namensgeber hinaus. Zwar sind so unsägliche Figuren wie Jair Bolsonaro, Boris Johnson, Sebastian Kurz oder Liz Truss fürs erste weg vom Fenster, aber in den USA halten die Republikaner seine Fahne hoch. Würden sie begreifen, dass sie die Midterms nicht trotz, sondern wegen Trump verloren haben, dann wäre die Welle kaum mehr aufzuhalten. Dann wird es vorbei sein mit halbwegs korrekten Wahlen im Mutterland der Demokratie. Dass Trump vor Wut geschäumt haben soll, gönnen wir ihm; es ist seiner Charakterlosigkeit geschuldet. Aber es entschärft das Problem nicht.
Dennoch gilt: Zu sehen, dass noch nicht alle Menschen ihre Resilienz verloren haben, ist ein Lichtblick. Die Zeitenwende wird wegen günstiger Witterung aufgeschoben. Ein neuer Termin wird nach den Präsidentschaftswahlen 2024 bekannt gegeben.
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