Die folgenden Zeilen befassen sich mit einer Gruppe von Menschen, die uns immer wieder von Neuem auf die Probe stellen: Sollen wir uns mit ihnen auseinandersetzen oder sollen wir sie – was wir am liebsten täten – ganz einfach ignorieren? Die Rede ist von Neonazis. Welches ihre finalen Ziele sind, darüber mag ein vernünftig denkender Mensch gar nicht spekulieren. Höchstwahrscheinlich wissen sie es selbst nicht. Aber ihre Etappenziele kennen wir: die Gesellschaft verwirren, den Staat verhöhnen, Andersdenkende erniedrigen. Dazu brauchen sie Plattformen, auf denen sie sich präsentieren können. Die Corona-Demonstrationen sind solche Plattformen mit der erwünschten Medienpräsenz. Neonazis versuchen, sie für sich zu vereinnahmen, um es in die Tagesschau zu schaffen. Wenn es ihnen gelingt, ist das für sie ein Erfolg.
Es ist das Paradoxon der Demokratie, dass wir ihnen dazu verhelfen müssen. Wir haben keine Wahl. Je mehr wir sie ignorieren, desto impertinenter wird ihr Auftreten, desto infamer ihre Botschaften. Dem Beobachter der Berichterstattung über die bundesdeutschen Corona-Demos von letzter Woche sind drei Bilder haften geblieben: Eines zeigt Neonazis im T-Shirt mit einem Anne-Frank-Porträt, ein anderes solche mit einem gelben Judenstern mit der Inschrift „Impfgegner“, und das dritte ist ein Plakat mit der Textzeile „Trust me, I’m a Doctor“ (Vertrau mir, ich bin ein Arzt) und darüber zwei Porträts, eines des Virologen Christian Drosten und eines des Auschwitzer Naziarztes, Berufssadisten und Massenmörders Josef Mengele.
Das ist niederträchtig. Und man glaube ja nicht an Zufall, wenn plötzlich drei verschiedene Motive derselben Bildersprache unsere Bildschirme einnehmen; im Gegenteil, dies hat System. Die Bilder, die haften bleiben sollen, verspotten und erniedrigen die Opfer des Nationalsozialismus‘ und des Holocausts. Die idiotischen textlichen Beifügungen dienen nur dem unglaubwürdigen Zweck, auf lächerliche Art und Weise Solidarität mit Menschen jüdischen Glaubens vorzugaukeln, damit die Zurschaustellung einer rechtswidrig antisemitischen Emblematik nicht den Tatbestand des Rassismus erfüllt. Offensichtlich hat man sich in der Neonazi-Szene eine Perfidie angeeignet, für welche die Urheberschaft ursprünglich den Ultras des italienischen Fussballclubs Lazio Rom zukommt. Als im letzten Oktober das römische Stadtderby Lazio gegen AS Roma stattfand, beklebten Laziofans tausende von Sitzlehnen im Olympia-stadion mit einer Fotomontage, die Anne Frank im AS-Roma-Dress zeigt. Weniger klar als die Geschmacklosigkeit der intendierten Aussage ist für uns Uneingeweihte ihr Hintergrund: Er liegt darin, dass der Mitbegründer des Fussballclubs AS Roma, Renato Sacerdoti, ein römischer Jude war, der den Holocaust überlebte.
Die Bilder dieser Aktion sogenannter Fans gingen um die Welt. Sie scheinen unter deutschen Neonazis auf ungeteilte Zustimmung gestossen zu sein, sodass sie die Idee flugs kopierten und variierten. Sie sollten sich nicht allzu viel einbilden auf ihre Raffinesse. Es fällt nicht schwer, die Wölfe im Schafspelz zu erkennen an ihrer Abgeschmacktheit, Charakterlosigkeit und geschichtslosen Dummheit. Leider hatte Friedrich Schiller recht mit den Worten, die er seinem Demetrius in den Mund legte: „Gegen Dummheit kämpfen Götter selbst vergeblich.“
Götter vielleicht. Es ist aber dringlich zu hoffen, dass der Staat im gegebenen Fall seinen göttlichen Liberalismus ablegt, seine Rechtsnormen überprüft, die Tatbestände definiert und endlich mit drakonischen Strafen belegt. Dies würde auch unser Dilemma sofort aus der Welt schaffen, ob wir solcherlei Vorkommnisse thematisieren oder ignorieren sollten.
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