Wenn dieser unsägliche Krieg bei allem Elend, das er von einem Tag auf den anderen über das ukrainische Volk ausgegossen hat, der Welt auch etwas Positives brachte, dann ist das die Reflexion, um die sich viele Menschen neuerdings bemühen. Sie denken mehr nach als auch schon: Darüber, dass Frieden und Sicherheit keine Selbstverständlichkeit sind. Dass es, über unseren Konsum hinaus, noch andere Werte gibt, dass dazu Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenrechte gehören. Dass das humanitäre Völkerrecht ein hohes Gut ist, das wir uns immer wieder neu erkämpfen müssen.
Die schamlose Aggression Putins hat unserer über Jahrzehnte wohlstandsgeschädigten westlichen Gesellschaft einen Hauch von Idealismus zurückgegeben und sie damit – völlig kontraproduktiv aus Sicht des Urhebers – stärker gemacht. Europa hat seine Reihen geschlossen. Mehr Solidarität war nie. Mit Blick auf die Flüchtlingssituation schliessen sich auch solche EU-Staaten an, die bisher zu den renitentesten Verweigerern einer humanitären Wertekultur gehört hatten, wie Ungarn und Polen.
Gewiss, jede Medaille hat zwei Seiten. Dass wir die Solidarität jetzt hervorheben, impliziert, sie habe bei anderen Gelegenheiten gefehlt. Nicht nur in Ungarn und Polen, sondern auch bei uns im westlichen Europa. So gastfreundlich und aufnahmefreudig wir uns jetzt zeigen, so abweisend waren wir, als Menschen bei uns angeklopft haben, die nicht vor russischer Gewaltherrschaft geflüchtet sind, sondern beispielsweise vor einer südamerikanischen Militärdiktatur. Wer im Verdacht steht, er könnte einem sozialistischen Weltbild anhängen, ist weniger wohlgelitten als jemand, der vor poststalinistischem Terror flieht. Und wenn die Schutzsuchenden gar noch dunklerer Hautfarbe sind als mitteleuropäische Normalbürger und wenn sie überdies männlich sind und einer anderen als der christlichen Religion angehören, dann wird unsere Gastfreundschaft plötzlich überschaubar. Wir haben in der Vergangenheit oft versagt. Ein Beispiel aus Bayern spricht Bände: Ein seit der grossen Migrationsbewegung 2015 (Syrienkrieg) bestehendes Flüchtlingscamp wurde dieser Tage geräumt, damit für Ukrainerinnen und Ukrainern Platz geschaffen werden konnte – die Menschen, die sich dort seit sechs oder sieben Jahren notdürftig eingerichtet hatten und sich ansatzweise eine neue Struktur geben konnten, wurden kurzerhand verlegt. Wir schaffen das, sagte damals Angela Merkel.
Auch in der Schweiz sind wir vor dergleichen Entgleisungen nicht gefeit. Während Europa im Grossen zusammensteht, treten sofort ein paar Neunmalkluge in Erscheinung, die das brennende Feuer nutzen wollen, um auch ihren persönlichen Suppentopf zu erwärmen. Schnell ein bisschen von der Stimmungslage profitieren, schnell das Eisen schmieden, solange das Feuer heiss ist. Die Strategie solcher Trittbrettfahrer besteht darin, ihren Eigennutz als Notwendigkeit für das grosse Ganze zu tarnen. Man muss den Menschen nur glaubhaft machen, es sei das Gebot der Stunde, sich so zu verhalten, wie es zufällig ihren eigenen Interessen am besten dient.
Dass die Freunde einer globalen Aufrüstung jetzt auch in der Schweiz – über den geplanten Flugzeugkauf hinaus – zusätzliche Milliarden fordern, kann unter den gegebenen Umständen niemanden überraschen. Schwerer wiegt, wie Christoph Blocher – kaum hatte der Bundesrat die EU-Sanktionen übernommen – schon mit einer Neutralitätsinitiative weibelte. Kein Wunder: Die Werke seiner EMS-Chemie in Russland (Nischni Nowgorod, Jelabuga) sind durch den Massnahmendruck von Stilllegung bedroht. Also beeilt er sich, der Schweizer Bevölkerung glaubhaft zu machen, die bundesrätlichen Anordnungen stünden im Widerspruch zur Neutralität. Marco Jorio, das wandelnde Historische Lexikon der Schweiz (dessen Chefredaktor er war) und einer der profundesten Kenner der Neutralitätsgeschichte, sagte dazu am vergangenen Montag in der NZZ: «Herrn Blochers Aussage ist völlig daneben. Sie ist falsch, weil die Schweiz an der bewaffneten Auseinandersetzung gar nicht teilnimmt. Sie […] ist dumm, weil sie grundlos und polemisch die Bevölkerung aufschreckt. Und sie ist verantwortungslos, weil ein Alt-Bundesrat in dieser kritischen internationalen Lage seine Worte überlegter wählen sollte.»
Könnte man es deutlicher sagen? Es hindert allerdings Blochers Gesinnungskumpanei von der SVP nicht, in der Flüchtlingsfrage ihrem aufgestauten Rassismus freien Lauf zu gewähren. Als am Freitag der Bundesrat den Schutzstatus für die Kriegsflüchtlinge in Kraft gesetzt hatte, forderte die SVP, ukrainische Familien dürften «nicht mit männlichen, vorwiegend muslimischen Asylmigranten vermischt werden». Thomas Aeschi, Fraktionspräsident der SVP, schaffte es in der Nationalratsdebatte, sogar diese Niedrigkeit zu toppen. Ohne Zusammenhang schwafelte er von «Nigerianern und Irakern», die «achtzehnjährige Ukrainerinnen vergewaltigen» würden.
Die Not der Menschen für derlei Ausfälligkeiten zu missbrauchen, noch dazu in einer Nationalratsdebatte, ist jämmerlich und peinlich. Die stilistische Übereinstimmung mit Elementen aus Putins Brandrede vom Donnerstag («Ungeziefer!») sollte eigentlich sogar den Suppenköchen der SVP zu denken geben.
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