In den letzten Tagen wurde in den Medien das schweizerische Maskendebakel aufgefrischt: Versäumnisse des Bundes beim Anlegen der Pflichtlager, deshalb notfallmässiger Ankauf von Ramsch durch die Beschaffungsämter, schimmlige Bestände aus chinesischen Lagerhalden zu Phantasiepreisen von 9 Franken das Stück. Im Nachgang werden sie jetzt noch ein bisschen teurer, denn es müssen auf den Einkaufspreis noch die Entsorgungskosten geschlagen werden. Die Ware ist, wie jetzt bekannt wurde, unbrauchbar. Weil die beiden Eigner der Handelsgesellschaft, denen die Einkäufer des Bundes auf den Leim gegangen sind, so stupid waren, sich umgehend Maserati und Ferrari anzuschaffen und den Wucher publikumswirksam machten, ist dieses Fiaskos bestens geeignet, eine noch viel grössere Unbotmässigkeit aus unserem Blickfeld zu verdrängen.
Die Rede ist von den Impfstoffen und ihren Herstellern. Nicht davon, dass auch in dieser Thematik vom BAG Beschaffungsprobleme klein geredet werden, obwohl sie offensichtlich sind, sondern von der Frage, wohin die Gewinne fliessen, die mit dem raren Impfgut erzielt werden. Diese Frage ist von Belang, weil kein Impfstoff in der erreichten Rekordzeit hätte entwickelt werden können ohne Hunderte Millionen Euro öffentlichen Geldes (hauptsächlich aus den Kassen der EU). Die Preisangaben pro Dosis sickern nur zäh an die Öffentlichkeit: Für den Impfstoff von AstraZeneca (der immer noch auf die Zulassung wartet) werde ein Preis von 4 Euro verlangt, für jenen von Pfizer/BioNTech 13 bis 19 Euro (Schwankungen als Folge der Liefertermine). Als die Verträge der Hersteller mit den Bezügern – die EU oder National-staaten wie die Schweiz – abgeschlossen wurden, ging man davon aus, dass pro Fläschchen 5 Dosen entnommen werden könnten; weil das Gut knapp ist, nimmt man mittlerweile einen leicht gestreckten Wert von 6 Dosen an. Da die Lieferverträge nicht auf Fläschchen, sondern auf Dosen lauten, liefern die Hersteller jetzt entsprechend weniger Fläschchen. Zum gleichen Preis, versteht sich.
Es geht also um das Problem des gerechten Preises – eine Frage, die nicht nur die Ökonomen aller Zeiten beschäftigt hat, sondern auch die Philosophen. Denn der gerechte Preis ist nebst der Ökonomie eine Frage der Ethik. Die Anschauungen darüber haben sich Im Lauf der Zeit gewandelt, von Aristoteles über die mittelalterliche Scholastik bis hin zu Adam Smith und dem Marxismus. Den unterschiedlichen ökonomischen Theorien aber stehen unverrückbar zwei ethische Konstanten gegenüber: Zur Festlegung eines gerechten Preises muss vollkommene Markttransparenz herrschen, und eine gesellschaftlich akute Not darf nicht ausgenützt werden. Wo dies trotzdem geschieht, wo also unter Ausnutzung einer Notlage bei einem Kauf Leistung und Gegenleistung bewusst aus dem Gleichgewicht gebracht werden, spricht man von Wucher. Dieser gilt als sittenwidrig und ist justiziabel, weil unsere Rechtsordnung immer noch ethischen Prinzipien unterliegt.
Denkt man die Sache zu Ende, so stösst man unvermeidlich auf die Grundfrage, ob heutzutage die Rechtsordnung einem entfesselten Markt noch beikommen kann, der sich längst von den ethischen Prinzipien gelöst hat, welchen jene noch unterworfen ist. Nichts aber stimmt uns skeptischer als diese Frage. Die globalisierte Wirtschaft entzieht sich mehr und mehr dem Zugriff von in nationalen Strukturen verharrenden Rechtsordnungen. Die Staaten schauen ohnmächtig zu, wie ihre Steuergelder in die Taschen der Shareholder jener Konzerne fliessen, die Impfstoffe auf den Markt brachten, die mit Steuergeldern entwickelt wurden. Alles an der Herstellung war öffentlich: die Finanzierung, die technischen Prozesse, die Testreihen, die Kollateralschäden – aber jetzt sind die Verträge geheim und die Gewinne privat.
Die Verteidiger dieses radikalen Marktverständnisses halten entgegen, die Aussicht auf den Gewinn sei der Motor gewesen, der die Impfstoffentwicklung in maximaler Beschleunigung überhaupt erst ermöglicht habe; wir sollten dankbar sein für diese Leistung! Ein Narr, wer annimmt, die pharmazeutischen Unternehmen hätten sich dermassen ins Zeug gelegt, weil die Notlage der Menschheit es erfordert… Dem Einwand wäre zuzustimmen, wenn mit der Herstellung der Impfstoffe ein unternehmerisches Risiko verbunden gewesen wäre. Aber das Risiko war weitgehend an die öffentliche Hand ausgelagert. Die Politik hinkt der Macht der Märkte hinterher, auch wenn diese Macht usurpatorisch erworben wird.
Schlimmer noch: Die Politik käme nicht einmal auf den Gedanken, das Verhalten der Pharmamultis zu hinterfragen. Alena Buyx, Vorsitzende des deutschen Ethikrates, hat diese Woche bekannt, dass in ihrem Gremium die Frage nicht diskutiert wurde, ob der Patentschutz auf die Impfstoffe angesichts der Notlage der Menschheit nicht zu hinterfragen wäre. In der Schweiz, immerhin, sind einige NGOs mit einem entsprechenden Ansinnen an den Bundesrat gelangt. Der Vorstoss wurde in einer Heftigkeit zurückgewiesen, wie wenn er obszön gewesen wäre. Er wird ebenso wenig diskutiert, wie unter Hindus erwogen wird, ob bei Hunger eine heilige Kuh geschlachtet werden dürfe. Es steht schlicht ausserhalb jeder Diskussion. Aber derweil sterben Millionen von Menschen in der Dritten Welt, weil ihre Staaten sich den Impfstoff nicht leisten können. Wie war das mit dem gerechten Preis? Vollkommene Markttransparenz muss herrschen, und eine gesellschaftliche akute Notlage darf nicht ausgenützt werden… Gewiss, die Maskenschrotthändler in ihren Luxuskarossen müssen jetzt mit Klagen rechnen. Die heilige Kuh aber, dass die Staaten den Grosskonzernen – ob der Pharmaindustrie oder anderer Branchen – alle Wünsche von den Augen ablesen, diese heilige Kuh hat Dauerschonzeit.
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