Wer den Blick ins (deutschsprachige) Ausland richtet, kann sich dem Eindruck nicht entziehen, diesmal sei die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten. Seit zwei Jahren tanzen wir auf dem Kraterrand des Vulkans Corona, dessen Ausbruch immer wieder angekündigt wurde. Beratungsresistent tanzten wir weiter. Nur wenn der Schlund akut brodelte, nahmen wir uns etwas zurück, um sofort jede Vorsicht abzustreifen, sobald sich die Oberfläche etwas beruhigte. Deutschland und Österreich sind auf Schlingerkurs; beide Länder rutschen in etwas, was wir nicht kennen. Die Bremsen versagen. Österreich nominiert in seinen Spitälern Triageteams, die über die Behandlung von Patienten auf Intensivstationen entscheiden, also über Leben und Tod. Gleichzeitig wird der Lockdown verhängt und die Impfpflicht angekündigt – auf Februar hin, also auf einen Zeitpunkt, wenn die Messe gelesen sein wird, so oder so. Deutschland ist noch nicht ganz so weit, aber bereits gibt es gesamtdeutsche Rochadepläne, nach welchen die Komatösen per Helikopterambulanz durchs Land geflogen werden, dahin, wo vielleicht noch ein Bett auf einer Intensivstation zur Verfügung steht. Krebspatienten, die sich in therapierbaren Umständen befinden, muss die Operation verweigert werden. Das Damoklesschwert der sich entwickelnden Metastasierung schwebt über ihnen. Es ist eine Katastrophe.
Und was macht derweil die Schweiz? Sie macht, was sie immer macht: Sie stimmt ab. Wir stehen vor dem Wochenende, an welchem wir über das Covid-19-Gesetz entscheiden. Was können wir daraus erkennen?
Erstens. Die schweizerische Corona-Politik war insgesamt ein Erfolg. Während die Gesundheitssysteme unserer Nachbarstaaten kollabieren, sieht sich der Bundesrat bei uns kaum zu verschärften Massnahmen veranlasst, da die Intensivstationen nicht überbelegt sind und die Covid-19-Patienten nur einen Anteil von 20 Prozent daran ausmachen. Der vielgescholtene Bundesrat hat einen viel besseren Job gemacht, als ihm weitherum zugebilligt wird. Dass er sich aktuell besonders stark zurückhält, ist der Abstimmung geschuldet.
Zweitens. Wir haben eine gesundheitspolitische Infrastruktur, die auch in dramatischen Zeiten trägt. Das ist kein politisches Verdienst von irgendjemandem, sondern resultiert aus unserm Wohlstand.
Drittens. Unsere politische Kultur, die sich seit 150 Jahren als Referendumsdemokratie entwickelte, hat sich bewährt. Das gemischt parlamentarische und direktdemokratische System macht möglich, was man sich andernorts nicht erträumen kann: Ein grosses, akutes Problem mittels Debattenkultur durch die Bürgerinnen und Bürger zu entscheiden. Das macht uns niemand nach. Gewiss: Auch wir haben unsern Andreas Glarner… Aber es wäre undenkbar, dass der Chef einer rechtskonservativen Volkspartei (wie Herbert Kickl von der FPÖ in Österreich) von der Rednertribüne des Nationalrates den Menschen die Kur mit einem Entwurmungsmittel für Pferde empfiehlt (schlimm genug, dass der schwachsinnige Vorschlag von Donald Trump, man solle den Infizierten doch Desinfektionsmittel spritzen, in Europa seine Fortsetzung findet…). Kickl hat seither einige an einer Vergiftung Verstorbene auf dem Gewissen.
Während in Österreich und in Deutschland mehr und mehr Rechtsradikale sich der Corona-Debatte bemächtigen und massive Polizeieinsätze nötig machen, müssen wir uns mit nichts Ärgerem auseinandersetzen als mit den Freiheitstrychlern. Die sind schlimm genug. Ihr Freiheitsverständnis, das sie aus ihrem Schweizer-Sein ableiten, ist ein Ärgernis. Ihre Forderungen sind eine Beleidigung für jeden mündigen Menschen. Aber trotz allem gibt es Unterschiede.
Die schweizerische Politkultur ist eine von unten gewachsene. Die Gemeinde, der Kanton – erst dann der Bund. So geht die Hierarchie der politischen Willensbildung. Topdown gibt es nicht. Nachteile? Die gibt es auch, natürlich. Das Prinzip der Subsidiarität ist schwerfällig. Es unterliegt dem Kompetenzgerangel und dem Hin-und-her-Geschiebe von Verantwortung. Aber die Vorteile überwiegen. Wo von unten aufgebaut wird und wo nie ganz gewiss ist, wer jetzt wirklich in der Pflicht steht, da werden sich keine extremen Positionen durchsetzen. Impfpflicht in der Schweiz? Undenkbar. Die Minderheit der Impfskeptiker handelt irrational, unverständlich, ist eine Belastung für die Mehrheit. Aber wir gehen anders mit ihnen um, weil wir grundsätzlich anders mit Minderheiten umgehen.
Während der letzten Woche sind aus den Reihen der Impfverweigerer Stimmen laut geworden, die suggerieren, am Sonntag sei mit Abstimmungsbetrug zu rechnen. Es wurde also das Ergebnis eines politischen Prozesses als gefälscht vorweg genommen, um nachfolgenden zivilen Ungehorsam prophylaktisch zu rechtfertigen. Das ist neu in der Schweiz und lässt aufhorchen. Trumpismus schwappt über. Er gefährdet nicht nur die Abstimmung vom Sonntag, sondern unsere politische Kultur überhaupt.
Die Schweiz steht am Wochenende (und in den Tagen danach) in einer Reifeprüfung. Noch haben wir sie nicht bestanden.
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