«The state of the union is strong.» Joe Biden hat am Dienstag vor dem versammelten Kongress über die Lage der Nation gesprochen. Leidenschaftlich und kämpferisch sei die Rede gewesen, vernimmt man. Halt so leidenschaftlich, wie das von einem leicht tattrigen 81-Jährigen erwartet werden darf, der sich anschickt, ein zweites Mal für die amerikanische Präsidentschaft zu kandidieren. Sollte alles so verlaufen, wie sich das Establishment das ausmalt, dann wäre er zum Ende seiner zweiten Amtszeit 86 Jahre alt. Sollte es aber sein Widersacher Donald Trump schaffen, dann käme dieser ebendann auf 82 Lenze.
Aktuell spricht nichts dagegen, dass die Gerontokraten unter sich bleiben. Kann man daran ermessen, wie «strong» der Zustand ihrer Nation wirklich ist? Offenbar ist es seit Jahren unmöglich, ein paar ernstzunehmende Präsidenschaftskandidaten (oder -kandidatinnen) aufzubauen, die eine Alternative wären zu Not oder Elend. Und das in einem Staat, der sich noch immer als den mächtigsten der Welt sieht. Und der so verbissen um den Machterhalt in der internationalen Staatenordnung kämpft wie Biden und Trump um ihr persönliches Nicht-loslassen-Können.
«The state of the union is strong.» Bidens Jubeloptimismus ist nichts als Wahlkampf. Niemand kann darüber hinwegsehen, dass die USA zur Farce verkommen sind, gemessen an den Idealen, die sie einst auf ihre Fahne geschrieben haben. Deren Beschwörung bleibt unverzichtbarer Bestandteil ihrer politischen Rhetorik. Aber auch das gebetsmühlenartige Gelaber von Demokratie kann die Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit nicht unter den Tisch kehren. Das aktuelle Verhalten der USA ist nichts anderes als Ausdruck ihrer Angst vor dem Verlust ihrer globalen Machtposition. Es ist der Zynismus ihrer (militärischen) Macht.
Um einschätzen zu können, wie «strong» die Lage der Nation wirklich ist, seien hier ein paar alternative Fakten in Erinnerung gerufen, fernab von jedem Wahlkampf. Zwischen 2000 und 2019 gaben die USA 6,4 Billionen Dollar aus für die Kriege in Afghanistan, im Irak, in Syrien und irgendwo. Amerika hat seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit damit vollkommen überdehnt und ist von der Gläubiger- zur Schuldnernation geworden. Während der Anteil der USA am globalen Sozialprodukt in diesen zwei Jahrzehnten von einem Drittel auf ein Viertel schwand, verdoppelte sich der Militärhaushalt auf jährlich 800 Milliarden. Das ist mehr als ein Drittel des gesamten US-Haushalts und mehr als die Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Soziales zusammen. China, das Platz zwei auf der Rangliste der Rüstungsausgaben einnimmt, kommt auf einen Viertel dieser Summe.
Die Gesamtverschuldung der USA (nur des Zentralstaats) betrug 2020 27,5 Billionen Dollar oder 130 Prozent des Brutto-Inlandprodukts. Ein europäischer Staat, der 60 Prozent Verschuldung aufweist, erfüllt die Aufnahmekriterien für die EU nicht… Kein Wunder, bleibt für die amerikanische Innenpolitik kein Geld übrig. Der US-Haushalt für Forschung und Entwicklung liegt bei 0,75 Prozent des BIP. Dem chinesischen Staat sind Forschung und Entwicklung das Dreifache wert. Kein Wunder, belegt China in den PISA-Studien der letzten Jahre notorisch Rang 1, während die USA um Rang 25 herumdümpeln (2018). Fragt sich nur, mit welchen Schulabgängern Joe Biden glaubt, den Anschluss an die internationale Exzellenz herstellen zu können.
1989, nach dem Ende des Kalten Kriegs, hätte sich den USA die Chance geboten, die Friedensdividende einzustreichen: Militär herunterfahren, Gewehr bei Fuss, dafür Bildung, Gesundheit und Soziales stärken. Man entschied sich für das Gegenteil. Die Rüstung, mit einem Produktionsvolumen von fast einer Billion Dollar jährlich zum vielleicht mächtigsten Wirtschaftsfaktor geworden, wollte ihren Status nicht mehr hergeben. Zusammen mit dem Militär und dem über die entsprechenden Ausgabenkompetenzen verfügenden Kongress werden die Weichen in der Aussenpolitik gestellt. Demokraten und Republikaner, sonst zerstritten wie nie zuvor, finden hierin jederzeit zueinander.
Dadurch ist die amerikanische Aussenpolitik noch aggressiver geworden. Um glaubhaft zu bleiben, müssen die Feindbilder aktiv bewirtschaftet werden. Al-Qaida, Gaddafi, Putin, der Iran, China und die üblichen Verdächtigen auf der Liste der Schurkenstaaten wurden und werden der Bevölkerung stetig vor Augen geführt, um die Unsicherheit zu kultivieren. Und in einem kriegerischen Klima bleibt Europa, das seine Sicherheitspolitik an die USA ausgelagert hat, in der Hand Washingtons. Dort ist nichts wichtiger, als Allianzen zwischen Mächten, die mit den USA um die vorderen Ränge in der Weltordnung konkurrieren, zu blockieren. Divide et impera. Deshalb durfte Deutschland (und damit die EU) sich in Sachen Gas nicht an Russland anbinden. Wer über die tieferen Ursachen des Ukrainekriegs nachdenken möchte, dem sei empfohlen, sich in solche Fragen zu vertiefen.
Der durchschnittlich desinformierte Bürger ist nicht fähig, diese Zusammenhänge zu erkennen. Demokratie ist auf dem Rückzug. Im Demokratieindex der britischen Zeitschrift «The Economist» zählen die USA nicht mehr zu den «vollständigen Demokratien», sondern nehmen als «fehlerhafte Demokratie» weltweit gerade noch Rang 30 ein, etwa auf der Höhe von Botswana. Die Verleger und Chefredakteure der wichtigsten Medien leisten dazu ihren aktiven Beitrag, hüben und drüben des Atlantiks.
«The state of the union is strong.» Wie nicht anders zu erwarten war, hat Joe Biden das Hohe Lied auf den Zustand der Nation gesungen, auf die Arbeitsplätze, die er geschaffen habe, auf die Stärke der Demokratie. Alles Schall und Rauch. Opium fürs Volk.
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