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AutorenbildReinhard Straumann

Liberté, Fraternité, Inegalité

Was haben Novak Djokovic und Boris Johnson gemeinsam (abgesehen davon, dass sie zu den zuverlässigsten Schlagzeilenlieferanten zählen)? Und nicht nur sie, sondern mit ihnen auch Donald Trump, Prinz Andrew, Antonio Horta-Osorio (letzte Woche von der Crédit Suisse entlassen) und Joseph Ratzinger, der resignierte Papst Benedikt XVI.? Sie alle einigt ihre gemeinsame Haltung, dass Regeln für alle Angehörigen eines Sozialsystems gelten, nur nicht für sie selbst. Von Djokovics Versuch, sich Down under den Start an den dortigen Tennis-Open zu ertrotzen, über Johnsons Partykultur, Trumps Steuervergehen bis hin zu Ratzingers Vertuschung von Missbrauch an Ministranten gehen sie Hand in Hand in der Überzeugung, sie stünden ausserhalb der geltenden Ordnung, nämlich darüber.

Woher nehmen sie bloss die Chuzpe? Bei Prinz Andrew, dem vormaligen Lieblingssohn der Queen und mutmasslichen Teilnehmer an Gangbangs mit Minderjährigen, kann man – fast als mildernden Umstand – als Begründung das blaue Blut annehmen, mithin eine Art Erbschaden, führt seine Ahnenlinie doch in absolutistische Zeiten zurück. Bei allen anderen ist es schwieriger. Die einzig plausible Vermutung ist, dass sie ihren gesellschaftlichen Status als gleichwertig mit blauem Blut erachten. Jedenfalls benehmen sich alle so, wie wenn sie mit einem Bein noch im Absolutismus stünden. L’état c’est moi.

Diese Beobachtung ist kulturgeschichtlich interessant. Sie hängt mit dem Verständnis vom Verhältnis von Freiheit und Gleichheit zusammen. Unsereins, als wir zum ersten Mal im Geschichtsunterricht von der Französischen Revolution vernahmen, als wir – einige Jahre danach – zum erstem Mal Frankreich bereisten und zur Fassade einer französischen Poststelle, einer Primarschule oder eines Bürgermeisteramtes aufblickten, als wir französische Banknoten (als es sie noch gab) oder Münzen genauer in Augenschein nahmen, war fasziniert vom Motto, das einst eine neue Zeit verheissen hatte: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit! Omnipräsent und unablässig wiederholt, suggerierte uns dieses idealistische Dreigestirn, offenbar sei es möglich, ein so starkes Gegensatzpaar wie Freiheit und Gleichheit zu harmonisieren.

In diesem Verständnis von Gerechtigkeit sind wir aufgewachsen: Freiheit und bestimmte Ansprüche auf Gleichheit (im Recht, in der Bildung, in den Chancen auf die Lebensplanung, in der Gesundheitsvorsorge) seien untrennbar. Die Gegenwart belehrt uns eines Schlechteren. Eine selbsternannte Macht- und Geld-«Elite» behandelt die Welt heute so wie zu absolutistischen Zeiten.

Die unterschiedlichen Anschauungen von Freiheit und Gleichheit basieren auf unterschiedlichen Wurzeln, die für unsere Gesellschaft bestimmend sind: die Französische und die Amerikanische Revolution. In der Französischen Revolution von 1789 benutzten die Abgeordneten des dritten Standes die Einberufung der Generalstände, um sich selbst zu befreien, die Ständeprivilegien aufzuheben sowie Frankreich – und ganz Europa – eine neue Sozialstruktur zu geben.

In der Amerikanischen Revolution von 1776 spielten soziale Fragen keine Rolle; es ging einzig um einen Steuerstreit zwischen Grossbritannien und dessen Kolonien in Nordamerika. Träger der Revolution waren keine Unterprivilegierten, sondern die gesellschaftliche Oberschicht der Ostküste, Anwälte und Grossgrundbesitzer. «Die Verfassung muss die Minderheit der Reichen vor der Mehrheit der Besitzlosen schützen», schrieb James Madison, einer der Verfassungsväter. Nichts lag ihm ferner als der Gleichheitsgedanke. Dabei darf man sich davon nicht täuschen lassen, dass auch die amerikanische Unabhängigkeitserklärung die Gleichheit hochhält. «Wir halten folgende Wahrheiten für unumstösslich», steht da, «dass alle Menschen gleich geschaffen sind.» Gezeichnet: George Washington und Thomas Jefferson. Sie haben nie daran geglaubt. Beide waren Sklavenhalter.

Während sich in der französischen Verfassung der Staat verpflichtet, die Rechte des Bürgers zu schützen, findet sich in der amerikanischen Verfassung das Recht des Einzelnen, Waffen zu tragen. Während der europäische Weg in immer neue Revolutionen führte, die immer stärker von sozialen Fragen und Arbeitskämpfen getragen waren, führte der amerikanische in den Wilden Westen. Die amerikanische Revolution war eine Revolution von oben. Die Autoren der französischen Verfassung dagegen kamen aus dem dritten Stand und waren überzeugte Sozialrevolutionäre. Gerechtigkeit war ihr primäres Anliegen.

Seit seinen Anfängen als politische Bewegung geht der Konservatismus in seinem tiefsten Inneren von der Ungleichheit der Menschen aus. Danton, Robespierre und Konsorten dagegen waren – in der Tradition Rousseaus – von der natürlichen Gleichheit aller Menschen überzeugt (und schreckten vor brutalen Exzessen nicht zurück). Beide Traditionen kämpfen um Freiheit: die europäische (wo sie dem amerikanischen Einfluss noch nicht unterlegen ist…) um eine Freiheit, die von sozialer Verantwortung nicht zu trennen ist, die amerikanische um die Freiheit des Kapitals.

Wo es um die Freiheit des Kapitals geht, bleibt die Gleichheit auf der Strecke. Der amerikanische «neo-cons» ist längst nach Europa übergeschwappt und hat hier unter den Schönen, Mächtigen und Superreichen seine Anhänger gefunden. Sie sind nach wie vor überzeugt von der natürlichen Ungleichheit des Menschen und vertreten diese Haltung schamloser als je. Sie heissen Novak Djokovic, Boris Johnson, Donald Trump, Prinz Andrew… und auch ein ehemaliger Papst ist in ihren Reihen. Auf dass die Armen im Geiste selig werden.

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