Das gibt es wieder in Mitteleuropa: Jüdische Mitmenschen sind bedroht. In der Folge dessen, was am 7. Oktober in Palästina geschehen ist, bricht unentschuldbarer Antisemitismus über eine unter uns lebende Glaubensgemeinschaft herein. Einmal mehr sehen wir uns – in der gebildetsten, bestinstruierten Gesellschaft der Geschichte – mit der deprimierenden Einsicht konfrontiert, dass die Aufklärung, das umfassendste intellektuelle Experiment der Geschichte, versagt. Die Katastrophe des Holocaust hat die 2000jährigen Rituale der Zerstörung, Diffamierung, Tötung nicht ausgebrannt. Die Unkultur lebt.
Aber bei aller Solidarität mit den Bürgerinnen und Bürgern jüdischen Glaubens können wir dennoch einem Gebot nicht entsprechen, das sie seit den Ereignissen vom ersten Oktobersamstag an uns richten: dem Gebot der Nicht-Kontextualisierung. Wir sollen das Unrecht, das der Staat Israel der palästinensischen Bevölkerung seit 75 Jahren antut, nicht zur Erklärung beiziehen. Geht das, wenn es doch offenkundig ist, dass es dieses Unrecht gibt?
Der Anspruch, jegliche Kontextualisierung verbitte sich, beherrscht neuerdings jede Talkshow. Er legt sich als Schleier des Tabus über die Debatte. Er verlangt, dass wir alles, was Israel den Palästinenserinnen und Palästinensern seit Jahrzehnten antut, aus dem Zusammenhang der Hamas-Attacke löschen. Diese sei von einer derartig unmenschlichen Grausamkeit gewesen, dass eine neue Rangliste des Bösen die Geschichte in ein Vorher und ein Nachher unterteile. Denn würden wir dem aufgestauten Hass von 2,3 Millionen im Gaza-Streifen eingepferchter, perspektivenloser Menschen im Zusammenhang mit der Hamas-Attacke eine Kausalität zuerkennen, so wäre das eine unangebrachte Relativierung ihrer Bestialität. Es würde nichts anderes bedeuten, als sich mitschuldig zu machen.
Die Hamas hat an jenem Samstagabend 1400 Menschen auf entsetzliche Weise abgeschlachtet. Es war ein sich Bahn brechender Verzweiflungsaufstand von Menschen, die beschlossen hatten, lieber den Tod (und den Tod von Tausenden Unbeteiligter) auf sich zu ziehen, als unter den gegebenen Umständen weiterzuleben. Ein mörderischer Zerstörungswille schlug um sich, der Wille zum Töten, zur Grausamkeit, zur Vernichtung eines sich zwischen der israelischen und der arabischen Welt anbahnenden Ausgleichs, deren Opfer – einmal mehr – sie selbst geworden wären, die Palästinenserinnen und Palästinenser.
Seither gibt es eine Debatte darüber, wie mit diesem Gewaltexzess umzugehen sei. Es gibt zwei Möglichkeiten. Die erste besteht, wie aus israelischer Perspektive gefordert, in der Nicht-Kontextualisierung. Sie bedeutet, dass wir zwischen relativem und absolutem Unrecht unterscheiden sollen. Etwa so: Zugegeben, Israel hat auch Fehler gemacht, aber die Hamas sind Tiere. Die Konsequenz dieser Variante ist die Gewalt: solche Tiere sind auszurotten wie räudige Hunde. Ihr entspricht die von den westlichen Main-Stream-Medien vertretene Meinung, die den Interessen aller dient, die bereit sind, Israel bis hinein in einen Atomkrieg zu folgen. Es ist die Haltung der terribles simplificateurs dieser Welt, die jegliche analytische Diskussion verhindern wollen. Den Menschen zu sagen, wer die Guten sind und wer die Bösen, sie völlig ausreichend.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, nach Erklärungen zu suchen, wie es zur Katastrophe kommen konnte (was ganz etwas anderes ist als die Gewalt zu entschuldigen oder zu relativieren). Da jegliche Erklärungen immer nur in der Geschichte angelegt sein können, heisst das zu tun, was die grossen Meinungsmacher verhindern wollen: zu kontextualisieren. Alles, was passiert ist, in den Zusammenhang des Nährbodens stellen, dem es erwachsen ist.
Wenn wir so vorgehen, begeben wir uns in eine komplexe Archäologie, die Schicht für Schicht freilegen müsste. Wir müssen wir vom christlichen (und keinesfalls islamischen!) Antisemitismus sprechen, von der Shoa, von der Nakah (der jüdischen Rache dafür), von der Nakba (der Vertreibung von 700'000 arabischen Palästinensern aus dem britischen Mandatsgebiet 1947/48). Und wir müssen vor allem vom israelischen Staatsterror in Form von Siedlungspolitik der letzten 50 Jahre sprechen. Wir müssen erwähnen, dass Premier Netanyahu und seine offen faschistischen Regierungskollegen die Hamas stets insgeheim unterstützt haben, weil sie so die Politik der Osloer Verträge («Zweistaatenlösung») hintertreiben konnten (Yassir Arafat: «Die Hamas ist eine Kreatur Israels»). Und wir können nicht oft genug auf die Verbindungen zwischen der amerikanischen Innenpolitik, dem Hegemonialanspruch der USA im mittleren Osten und dem Staat Israel hinweisen. Und immer wieder ist daran zu denken, in welcher Weise die Palästinenserinnen und Palästinenser von israelischen Beamten schikaniert, drangsaliert und entrechtet werden, ohne dass sie sich wehren können. Denn wer Widerstand leistet, gilt als Terrorist. Und so wird mit ihm verfahren.
All diese Zusammenhänge sollen wir nicht erwähnen dürfen, bloss um Israel einen Freifahrschein der Gewalt auszuhändigen? Damit der Gazastreifen – wie ein Mitarbeiter der UNICEF sich ausdrückte – noch mehr zu einem Friedhof für Kinder wird?
Mit exakt derselben Radikalität, die extremen Hamas-Leuten eigen ist, die dem Staat Israel das Existenzrecht absprechen, präsentierte Netanyahu vor wenigen Wochen der UNO-Generalversammlung eine politische Karte der Region, auf welcher die palästinensischen Autonomieregionen schlicht und ergreifend nicht existieren. Wer will da abwägen zwischen dem Fanatismus von hüben und jenem von drüben? Wer will Israel ein völkerrechtlich verbrieftes Selbstverteidigungsrecht zugestehen und den Palästinensern nicht?
Wie gesagt: Es gibt zwei Möglichkeiten. Die eine sieht die Lösung in der Gewalt, die andere in der Politik. Wer letztlich am Fortbestand der Menschheit Interesse hat, kann nur diejenige wählen, die aus dem Kontext schöpft.
Ein Mord ist ein Mord, gleich ob er von einem Semit oder Nichtsemit begangen wird.