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AutorenbildReinhard Straumann

Hahnenkämpfe

Überschüssig ist in unserer kurzlebigen Zeit – seit der von Olaf Scholz ausgerufenen «Zeitenwende» – Druckerschwärze vergossen worden über das Verhältnis von Deutschland zu Russland. Man habe 20 Jahre lang vorschnell den Friedensschalmeien Waldmir Putins vertraut, habe zu unreflektiert den Wohlstand auf billiges russisches Gas gebaut, habe fahrlässig die eigene Rüstung vernachlässigt – etc., etc., wir kennen den Text. Offenbar ziehen seine Autoren den heutigen Zustand am Rande eines Weltkriegs jenem von Frieden, Wohlstand und Prosperität vor, wie er noch vor Kurzem Bestand hatte.

Über das Schlechtreden der wenigen Jahrzehnte russisch-deutscher Freundschaft vergessen wir ganz, dass Deutschland, dieser Sandwich-Staat in der Mitte Europas, auch im Westen in einer Art und Weise eingegrenzt wird, die lange als der Schlüssel zum Frieden Europas verstanden wurde. Der Friede zwischen Frankreich und Deutschland zählte zweimal im 20. Jahrhundert – nachdem je ein Weltkrieg entbrannt war mit den Franzosen hüben und den Deutschen drüben – zu den bemerkenswertesten diplomatischen Leistungen wahrhafter Kulturnationen. Möglich gemacht hatten ihn Klugheit, Weitsicht, Respekt und teilweise Freundschaft zwischen Männern, die – zumindest hierin – persönliche Grösse bewiesen. Die Rede ist von den Aussenministern Aristide Briand und Gustav Stresemann sowie von den Staatschefs Charles de Gaulle und Konrad Adenauer, Valéry Giscard d’Estaing und Helmut Schmidt sowie François Mitterrand und Helmut Kohl.

Warum an dieser Stelle auf die Friedensleistungen dieser Männer Bezug genommen wird? Weshalb es sich aufdrängt, die friedvollen Jahrzehnte über die Rheingrenze hinweg in Erinnerung zu rufen? Weil wir uns, in unserer kriegsgeilen und auf Russland fokussierten Gegenwart, viel zu wenig bewusst machen, wie sehr sich das Verhältnis zwischen Paris und Berlin derzeit abkühlt. Und wie sehr die Regierungen an beiden Orten offenbar bereit sind, die Friedensidee Europas – der Urzweck der Europäischen Union – aufs Spiel zu setzen. Jetzt, wo Europa eine Funktion haben könnte, die über jene des gemeinsamen Marktes hinausginge, regieren im Elysée-Palast ein eitler Machtgockel und im Bundeskanzleramt ein wortkarger Besserwisser, die uns medial Freundschaft vorgaukeln, sich aber hinter den Kulissen Gift geben könnten.

Das Schlimme daran ist, dass sie das in einer weltpolitischen Phase tun, die sowohl ihnen beiden als auch sämtlichen anderen politischen Führern der westlichen Welt zu entgleiten droht. Als kürzlich Olaf Scholz in Paris zu Besuch gewesen und bereits wieder abgereist war, sprach Emmanuel Macron alleine zur Presse. Offenbar wollte er Scholz nicht neben sich haben. Er sprach von «unbegrenzter Hilfe» an die Ukraine, worunter er auch die Möglichkeit der Entsendung von Bodentruppen verstand, und davon, dass es in Sachen Massnahmen gegen Russland «keine rote Linie» gebe. Indem er über den abwesenden Kanzler höhnte – «Heute sassen Leute am Tisch, die der Ukraine Helme und Schlafsäcke schicken wollten» – markierte er den unbeugsamen Macker. Angst vor dem Supergau? Doch nicht beim Präsidenten der Grande Nation.

Es gereicht Macron weder zur Ehre noch zur staatsmännischen Klugheit. Natürlich replizierte Putin postwendend, dann gebe es gegenüber Nationen, die solche Haltungen vertreten würden, aus seiner Sicht ebenso wenig eine «rote Linie». Mit andern Worten: In West und Ost wedeln die Männer, die sich stark fühlen, mit der Atomkeule.

Zeiten, in denen Kriege drohen, sind von anderem Geist beseelt als Nachkriegszeiten. Zeiten, in denen Kriege drohen, sind geprägt von Regierungschefs, die meinen, sie müssten imponieren durch nationalistisches Gehabe, durch Säbelrasseln und Machtgedöns. Wenn die Katastrophen ausgestanden sind, kommen ihre Nachfolger dann wieder zu Demut und Vernunft – wie Briand und Stresemann, die in Locarno 1925 den Versailler Vertrag bestätigten und damit auf jegliche Revanchegelüste verzichteten (wofür sie den Friedensnobelpreis erhielten). Wie de Gaulle und Adenauer, die die Verträge über Kohle und Stahl aushandelten und damit die Kriegsindustrien internationalisierten. Wie Giscard d’Estaing und Schmidt, die die europäische Integration voranbrachten. Wie Mitterrand und Kohl, die nicht nur Hand in Hand über das Schlachtfeld von Verdun gingen, sondern einerseits die Wiedervereinigung Deutschland und andererseits die Einführung des Euro in die Waagschale warfen. Damit hatte Deutschland die Langzeitfolgen des Zweiten Weltkriegs überwunden, und Frankreich hatte allfällige Weltmachtambitionen Deutschlands eingehegt. So geht kluge Politik.

Der Leichtsinn, die Gedanken- und Verantwortungslosigkeit der Staatschefs unserer Tage erinnern an die Zeit vor 110 Jahren, als Regierungsmänner und Monarchen eben diesem Schlage die Gefahr eines Flächenbrandes nicht erkannten, sich über mögliche Ausweitungen und Eskalationen hinwegsetzten, mit Blankoschecks und Bündnisschwüren um sich warfen – und voller Stupidität einen Weltkrieg vom Zaun rissen, den keiner gewollt hatte. Eine Zeitenwende war die Folge. Im Unterschied zu derjenigen von Olaf Scholz war es damals eine wirkliche. Eine, die die Welt in Trümmer legte und 20 Millionen Menschenleben forderte.

Derselbe Tanz auf dem Vulkan findet heute statt. Anstatt dass sich Deutschland und Frankreich zusammenraufen würden, um gegenüber den USA und Russland eine ernstzunehmende dritte Position einzunehmen und für Ausgleich zu sorgen, zelebrieren ihre Chefs Hahnenkämpfe. Wem spielen sie damit in die Karten? Aus westlicher Sicht müsste man sagen: Putin. Aus Putins Sicht: den USA. Uns Europäern hilft weder das eine noch das andere.

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