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AutorenbildReinhard Straumann

Hüst und Hott

Der Kalauer von der hier ernsten, aber nicht hoffnungslosen, dort jedoch hoffnungslosen, aber nicht ernsten Lage trifft den Nagel auf den Kopf: die Art, wie in der Schweiz die meisten Kantonsregierungen über lange Zeit mit der Corona-Pandemie umgegangen sind, ist ein gesundheitspolitisches Versagen erster Güte. Im Ausland wunderte man sich zunächst darüber, dann entgleiste jedes Verständnis, und in den letzten Tagen schüttete man unverhohlenen Spott über die Eidgenossen. Beispielsweise der in Hamburg erscheinende SPIEGEL beurteilt in dieser Woche so viel Ignoranz geradezu als frivol.

Leider müssen wir sagen: zu Recht. Aber jetzt machen viele unserer Politiker kehrt, und dazu zählen insbesondere die Kantonsregierungen. Wehrten sie sich vor Wochenfrist noch mit Händen und Füssen gegen den vom Bundesrat angedrohten Lockdown, so übertreffen sie sich plötzlich in den Ankündigungen noch härterer kantonaler Massnahmen, falls jene des Bundesrates nicht ausreichen sollten. St. Gallen kann neuerdings den Skitourismus auf Kantonsgebiet nicht mehr verantworten, Zürich plädiert dafür, gleich in der ganzen Schweiz die Pisten zu schliessen. Der Aargau will jegliche Versammlung von Menschen auf fünf Individuen begrenzen, Baselland findet, der «aktuelle Zustand sei auf Dauer nicht aushaltbar».

Dort, im Baselbiet, galt vor wenigen Tagen noch exakt das Gegenteil. Damals war die Idee, dass die Restaurants und Non-Food-Läden hätten geschlossen werden können, nicht aushaltbar. Die kantonalen Direktionen für Gesundheit und für Volkswirtschaft sind in Liestal unter dem gleichen Hut vereint. Der Regierungsrat unter diesem Hut heisst Thomas Weber. Er spürt die Zerrissenheit beider Seelen, ach, in seiner Brust seit Monaten. Und das Spaltungsleiden des Baselbieter SVP-Mannes ist kein Einzelfall – es geht durch die Gesamtregierungen aller andern 25 Kantone. Überall hat innert Wochenfrist der regierungsrätliche Kompass vom Pol Wirtschaft radikal auf den Pol Gesundheit gedreht. Was ist passiert?

Der Grund liegt darin, dass – in Wechselwirkung zueinander – die öffentliche und die veröffentlichte Meinung gekippt sind. Das reicht, um in den Kantonsregierungen den Meinungsumschwung zu bewirken. Das Hüst und Hott, das sie uns vorführen, gereicht ihnen wenig zur Ehre. Überzeugung scheint kaum im Spiel zu sein angesichts der Verhaltensweisen von Wetterfahnen und Wendehälsen. Gewiss, es ist bekannt, dass die Regierungen nicht einfach autonom entscheiden können. Der Druck, dem sie permanent ausgesetzt sind, macht ihren Job schwierig. Alle möglichen und unmöglichen Lobbies versuchen Einfluss auszuüben, Gewerbeverbände und KMUs, Handelskammern und Arbeitgeber, Gastronomie und Tourismus.

Das sind die starken Players. Auf der anderen Seite standen bis vor kurzem vergleichsweise schwache Kräfte, eigentlich nur Zahlen: die Positivitätsrate, der R-Wert, die Fallzahlen, die Belegung der Intensivbetten, die Intubierten, die Todesfälle. Die Aussagen, die diesen Zahlen zu entnehmen wären, sind zwar eindeutig. Aber der Code, in welchem sie formuliert sind, ist abstrakt; es ist ein Code für Wissenschaftler. Erst im Laufe der letzten Tage haben es die Direktoren der grossen Universitätsspitäler von Bern und Zürich erreicht, diese Abstraktion aufzulösen und die Tatsachen zu konkretisieren. Plötzlich verstanden die meisten Menschen, worum es geht. Plötzlich erinnern die Bilder aus den Spitälern fatal an jene aus Norditalien vom März und vom April. Aus Zahlen wurden überforderte Pflegende und leidende Patienten.

Die Reaktionen sind überaus heftig. Menschen, die sich für das Pflegepersonal in Spitälern und Altersheimen einsetzen, melden sich reihenweise zu Wort. Leserbriefschreiber zu Hunderten bringen zum Ausdruck, was Sache ist: Es sei eine Schande, von welchen ethischen Orientierungen unsere exekutiven Behörden bisher ausgegangen sind. Sie huldigten einzig dem goldenen Kalb, dem Business as usual. Verstärkung erfahren alle diese Stimmen durch den Vergleich mit dem Ausland, den uns unsere Medienkultur frei Haus liefert. Wir mussten zur Kenntnis nehmen, dass man nirgendwo zynischer mit der Not der Pflegenden und der Sterbenden umgegangen ist als in der humanitären Schweiz. Der Imageschaden, den wir daraus ziehen, ist immens. Mittlerweile ist er so umfassend, dass er auch den rechtsbürgerlichen Kommentatoren den Stempel aufdrückt. Der Meinungsumschwung in diesem Lager wird täglich, ja fast stündlich konkreter. Regierungsräte von SVP und FDP, die mit einem neuerlichen Lockdown Berührungsängste hatten wie der Teufel mit dem Weihwasser, fordern plötzlich Härte.

Es ist schwierig, diesen Meinungsumschwung in den bürgerlich dominierten Kantonsregierungen zu beurteilen. Niemandem soll man verwehren, klüger zu werden. Und wenn Menschen, die in einem Dilemma stecken, im Laufe ihres Entscheidungsprozesses plötzlich ein soziales Gewissen entdecken, dann ist das zu loben. Aber ein schaler Beigeschmack haftet dieser allzu späten Wahrnehmung von Verantwortung an. Wir haben unsere Regierungen dafür gewählt, dass sie von Anfang an klug sind und nicht erst dann, wenn ihnen das Wasser bis zum Kinn steht. Und nicht erst, wenn Bundesgelder zugesichert sind. Wir sollten erwarten dürfen, dass sich diese Regierenden nicht bis fünf nach zwölf zu Erfüllungsgehilfen der Wirtschaftslobbies instrumentalisieren lassen, sondern auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse vorausschauend handeln. Es wäre möglich gewesen, wie andere Parteien als FDP und SVP mit ihren seit Monaten erhobenen Forderungen vielfach bewiesen haben. Das mindeste, was man von den bürgerlichen Versagern in den Regierungen jetzt erwarten dürfte, wäre eine authentische, ehrliche Kommunikation über ihren Meinungswandel. Aber auch damit hapert es bedenklich. So, wie sie bis jetzt die Aussagekraft der Zahlen ignoriert haben, so ignorieren sie jetzt ihre bisherige Ignoranz und reihen sich ein ins Glied der verantwortungsbewussten Bedenkenträger. Gouverner, c’est prévoir. Fragt sich nur, in welcher Hinsicht.

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