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AutorenbildReinhard Straumann

Der Hohepriester der Lüge und der Gier

Sollte es immer noch Menschen geben, die sich unter den „westlichen Werten“ nichts Konkretes vorstellen können, so steht ab sofort Hilfe in Aussicht. Man braucht sich nur auf der Strasse umzuhören, ein bisschen bei Anlässen einen unverbindlichen Plauderton anzuschlagen oder, für Fortgeschrittene, die westlichen Medien der üblich-verdächtigen Richtung zu konsumieren, und man erhält umgehend Anschauungsunterricht. Die Attacke der israelischen Geheimdienste auf Menschen im Südlibanon, die im Besitze eines Pagers oder eines Funkgeräts waren, und unsere Reaktionen lassen keine Zweifel offen. Tausende solcher Geräte waren vom Mossad aus normalen Lieferketten abgezweigt, mit Sprengstoff geladen und entsprechend programmiert worden. Sie detonierten am Dienstagnachmittag und richteten ein beispielloses Blutbad an.

Wer benutzt einen Pager? Ja, die libanesische Hizbollah favorisiert diese Technologie, weil sie – anders als Handys – nicht geortet werden kann. Und ja, deshalb waren auch Menschen dabei, die nach israelischer Ansage als „Terroristen“ gelten. Und noch einmal ja: Die Attacke der Hamas vom 7. Oktober letzten Jahres war ebenso ein abscheuliches Verbrechen. Seltsamerweise stossen wir aber immer wieder auf die Feststellung, dass die abscheulichen Verbrechen gegen Israel immer so verlaufen, dass sie sich in der Folge als günstig für Israel im Sinne seiner politischen Ziele erweisen, während die abscheulichen Verbrechen gegen die Palästinenser und die arabischen Staaten diesen nur Elend, Tod und Verderben bringen. Da die Hizbollah im Libanon, die sich solcher Geräte bedient, nicht einfach Terroristen sind, sondern eine breite politische Bewegung, finden sich unter den Opfern des Gemetzels Zivilisten. Solche, die mittels Pager zu alarmieren wären: Ärzte, Krankenschwestern, die Feuerwehr, Polizei und Politiker, Entscheidungsträger. Mehr als 30 von ihnen sind tot, 3000 schwer verletzt. Wer den Pager in der Hand hatte, hat keine mehr. Wer das Funkgerät am Ohr hatte, dem wurde das Gesicht weggefetzt. Dutzende sind seit Dienstag blind. Wer es in der Hosentasche oder am Gurt trug, hat kein Geschlecht mehr, keine Leber, keinen Unterleib. Ärzte aus den völlig überlasteten Spitälern berichten: der reine Horror. Der das getan hat, muss ein Monster sein. Mehr totaler Krieg geht nicht.

Hätte es also noch immer jemanden gegeben, der über die „westlichen Werte“ im Unklaren war, so hat er nun den Durchblick. Insbesondere wenn man sieht, wie – Pi mal Daumen – vier Fünftel aller Zeitgenossen sich nicht mehr einkriegen vor Bewunderung für diesen „genialen Schachzug“. So langfristig vorbereitet! Und so super ausgeführt! Geil! „Darf man sich über den Tod von Terroristen freuen? Ja.“ (BILD-Zeitung). „Ob Kino oder Netflix, das glaubt keiner… Die Geheimdienstagenten [Israels] sind die ungekrönten Könige der militärischen Sabotage… Der Anschlag ist der ‚perfect storm‘… Sich über die Infamität der Pager-Attacke zu erregen, ist vertane Zeit.“ (Basler Zeitung, Tages-Anzeiger). Nur die Politiker sagen gar nichts, denn wie rechtfertigt man so etwas? Sollte einer daran erinnern wollen, dass westliche auch christliche Werte sind – der trete vor und schweige.

Die Pager haben die Feigenblätter von den westlichen Werten weggesprengt. Demokratie, Freiheit, Menschenrechte? Ein Hohn. Stattdessen sehen wir die Gier, den Eigennutz, die Verschlagenheit. Die Politik des Westens gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten ist durchsetzt von Betrug, Landnahme, Usurpation. Nennen wir die Kinder beim Namen: Als im Ersten Weltkrieg das Abend- nach dem Morgenland auszugreifen begann, köderten die Engländer und die Franzosen die Araber der Levante (Libanon, Syrien, Jordanien), das Osmanische Reich wegzuputzen, mit dem Versprechen, sie würden dafür die Selbstverwaltung über die „befreiten“ Gebiete erhalten. Kaum geschehen, teilten dieselben Engländer und Franzosen alles, was nicht Wüste war, unter sich selbst auf (Sykes-Picot-Abkommen 1916). Der englische Aussenminister Balfour stabilisierte den Wortbruch durch den Vorschlag, eine „Heimstätte“ für die Juden in Palästina aufzubauen. Es war für England die Möglichkeit, einen Fuss in die Region zu setzen, deren Bedeutung im Zusammenhang mit Erdöl plötzlich hervortrat. Die Staatsgründung Israels 1949 wäre die Chance gewesen, die Koexistenz vieler Kulturen zu ermöglichen, aber der Westen ist ein ungezogenes Kind – er will immer alles, und zwar sofort. Sämtliche Verletzungen der UNO-Teilungspläne durch Israel wurden von den USA und der NATO sofort mit Waffenlieferungen gestützt. Zum Höhepunkt der westlichen Selbstgerechtigkeit, jederzeit nach Bedarf Kriege anzuzetteln, kam es 2003 im Irak („Wie kommt unser Öl unter deren Sand?“). Und heute gilt im Gazastreifen nach 40‘000 getöteten Palästinensern nicht Selbstverteidigung, nicht Auge um Auge, sondern es gelten (man kommt um diese furchtbaren Begriffe nicht herum) Ausmerzung, Unterjochung, Herren- und Untermenschentum. Es geht um Landnahme, Wassernahme, Erdöl- und Erdgasvorräte vor der Gaza-Küste, es geht um die Legitimierung einer Siedlungspolitik, die völkerrechtlich unhaltbar ist. Und es geht um die Prozesse, denen Netanjahu entgegensieht, sobald seine Regierung scheitert. Deshalb will er den Krieg, schamlos.

Wundert sich jemand, dass es den IS gibt, die Hamas, die Bomben der Hizbollah? Westliche Machtpolitik und das Bewusstsein der militärischen Überlegenheit haben den Hass der Orientalen geschürt. Gleichzeitig wird immer deutlicher, dass das Abendland eine absteigende globale Minderheit ist, weil es seine wahren Werte verraten hat, den Humanismus und die Aufklärung. Seit Asien den technischen Rückstand wettgemacht hat, werden die Karten neu gemischt. Unter chinesischer Führung formieren sich Allianzen, die nach Afrika, Ostasien, Südamerika ausgreifen. Der Dollar als Weltwährung wackelt. BRICS-plus kann sich vor Zuzug kaum wehren. Nächstens stösst die Türkei dazu, ein NATO-Mitglied.

Die Welt kippt, und Israel leistet dieser Entwicklung Vorschub. Die USA, die Netanjahu zähmen könnten, liefern ihm Waffen. Bald wird er sein Land definitiv in die Unterwelt der Schurkenstaaten manövriert haben. Aber weil in Sachen Wertekultur die Führer des Westens alle denselben blinden Fleck haben, lassen sie ihn gewähren, den Hohepriester der Lüge, der Gier, der Machtbesessenheit. Mit seiner zynischen Machtpolitik nihiliert Netanjahu in kurzer Zeit jeden Schmerz, den sein Volk in leidvollen Jahrtausenden erfahren hat. Er hat Israel auf einen gewöhnlichen Mörderstaat unter vielen geschrumpft.

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