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AutorenbildReinhard Straumann

Das Scheitern der Aufklärung


«Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit.»


Erinnerungen an eine längst vergessene Deutschstunde am Gymnasium kommen auf beim Wiederlesen dieses Satzes von Immanuel Kant, mit welchem er 1784 den Begriff Aufklärung definierte. Aber die Definition ist nicht vollständig, denn dieser erste Satz seines Textes «Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?» schafft den Bedarf neuer begrifflicher Klärungen. Was ist Unmündigkeit? Was heisst selbstverschuldet? Kant fährt fort:


«Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschliessung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, ist also der Wahlspruch der Aufklärung.»


Grossartige Sätze, herausragend aus der gesamten abendländischen Geistesgeschichte! Einerseits aufgrund der logischen Folgerichtigkeit der Begriffsentwicklung, andererseits aber – und vielleicht noch viel mehr – aufgrund des darin enthaltenen Menschenbildes. Der Mensch hat kraft seines Verstandes die Fähigkeit, die Probleme seines Daseins und des Zusammenlebens mit seinen Mitmenschen zu lösen! Der Mensch ist mündig! Wir können ihm vertrauen.

Können wir? Die Themen, worüber die Medien während der auslaufenden Woche berichteten, lassen kaum etwas übrig vom aufklärerischen Optimismus – oder, schlimmer noch: mehr und mehr können wir uns dem Eindruck nicht verschliessen, dass wir hinter Kant zurückgefallen sind. Max Frisch formulierte es so: «Die Aufklärung, das grosse Wagnis der Moderne, ist gescheitert.»

Das war 1986, Teil einer Rede, gehalten zu seinem 75. Geburtstag. Die Wende zum Guten hat seither nicht stattgefunden. Je länger desto weniger hält der Geist der Aufklärung einer Woge von Irrationalität stand. Ein Blick in die «Rundschau» des Schweizer Fernsehens vom vergangenen Mittwoch gab uns Einblick in zwei Themen: In der Pandemie gehen wir mit Riesenschritten auf eine nächste Welle zu, und in Afghanistan haben die Gotteskrieger ihr Land unterworfen und sind daran, eine Rechtsnorm über die Gesellschaft zu legen, die zum Himmel schreit.

Beides lässt Brücken schlagen zur Idee der Aufklärung – respektive zu dem, was davon übriggeblieben ist. Die Menschheit (und zumal ein so begünstigter Teil wie die Schweiz) hätte die Möglichkeit, innerhalb von zwei Monaten die Pandemie zu besiegen. Stattdessen verweigert die Hälfte der Bevölkerung die Impfung und bevorzugt es, das Recht auf Verweigerung zum Kulturkampf zu erheben. Wer im betreffenden «Rundschau»-Beitrag auf die Befragten hörte, vernahm nicht primär medizinische Bedenken, sondern schlicht und ergreifend Trotz. Irrationalität herrscht. Ich lasse mir doch nichts vorschreiben vom Staat! Ich lasse mir meine Freiheit nicht nehmen!

Haben diese Querköpfe je die Frage gestellt nach dem Nutzen der Freiheit? Nach ihrem Sinn und Zweck? Oder beharren sie auf einem Recht schlicht und ergreifend deshalb, weil die Zeichen der Zeit uns signalisieren, dass wir aus Einsicht darauf verzichten sollten?

Der andere «Rundschau»-Beitrag führte den Zuschauer in eine voraufgeklärte Gesellschaft. In Afghanistan wüten die Taliban (die einst vom Westen, dem aufgeklärten Teil der Welt, stark gemacht wurden, weil dies grad seinen Interessen entgegenkam). Es wurde ein Handy-Video gezeigt, in welchem zu sehen war, wie eine junge Frau ausgepeitscht wurde, weil sie einen jungen Mann per Handy angerufen hatte. Schreiend unter den Peitschenhieben musste sie bekennen, sie sei ein Dreck, eine Schande der Gesellschaft. Wäre der Mann, dem ihr Anruf galt, verheiratet gewesen, so wäre sie nicht ausgepeitscht, sondern gesteinigt worden.

In der Epoche Kants bestand Freiheit in der Einsicht, sich in das Notwendige zu fügen. Mündig wäre, wer unterscheiden könnte zwischen dem Notwendigen, das der Gemeinschaft nützt, und partiellen Machtinteressen, die der Gemeinschaft schaden. In einem der geschilderten Fälle, dem schweizerischen, geht es um einen Staat, der unter Berücksichtigung aller Rechte von Andersdenkenden Massnahmen trifft, die am Gemeinwohl orientiert sind. Im anderen Fall, jenem der Taliban, geht es um Macht. Eine brutale Clique von Gewalttätern setzt selbst geschaffenes Recht mit Hilfe einer Schreckensherrschaft absolut. Beiden Fällen gemeinsam ist die Absage an jede Form von Aufklärung.

Mündig wäre, wer unterscheiden könnte. Es würde Einsicht, Bildung und – Kant hatte recht – Mut erfordern, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Mut braucht es, weil das, was uns der Verstand sagt, erforderlich macht, alte Glaubenssätze zu hinterfragen, Gewohnheiten über Bord zu werfen, eigene Interessen dem Gemeinwohl unterzuordnen. Die Wissenschaften stellen uns alle Kenntnisse, die dazu notwendig wären, zur Verfügung. Hätte Kant auch nur ahnen können, welche Wissensexplosionen in den zweieinhalb Jahrhunderte nach ihm möglich würden, er wäre selig entschlafen in zuversichtlicher Erwartung des Paradieses auf Erden. Würde er aber sehen, was die Menschheit aus diesen Möglichkeiten gemacht hat, dann müsste er sich im Grabe umdrehen.

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