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AutorenbildReinhard Straumann

Der Flügelschlag eines Schmetterlings

In den USA ist Wahlkampf. – Bitte? Der war doch letztes Jahr!

Ja, aber es ist auch dieses Jahr Wahlkampf, weil in den USA immer Wahlkampf ist. Die Verfassung will das so. Die kunstvollen Verstrickungen der exekutiven, legislativen und judikativen Gewalt – so, dass jede immer auch ein Teil der beiden anderen ist – macht auch vor den Behörden nicht halt. Auf nationaler Ebene wird jedes zweite Jahr gewählt (nämlich in den Jahren mit geraden Zahlen, jeweils an einem Dienstag anfangs November). Ist Präsidentschaftswahljahr (wie 2020), dann werden mit dem Präsidenten das Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats gewählt. Zwei Jahre danach wiederum das Repräsentantenhaus und das zweite Drittel des Senats. Und wieder zwei Jahre später erneut der Präsident oder die Präsidentin, schon wieder das Repräsentantenhaus und das letzte Drittel des Senats. So haben die Verfassungsväter sich das vorgestellt im Jahr 1787: Die Macht des Präsidenten zerschellt am Amtsenthebungsverfahren des Kongresses, und diese wiederum ist begrenzt durch die kurze Amtsdauer der Abgeordneten und die Drittelung des Senats. Dazu kommen in den Jahren mit ungeraden Zahlen die Regional-, das heisst die Einzelstaatswahlen, unter anderem durch die Bestellung der Gouverneure. Am übernächsten Dienstag beispielsweise in Virginia, in Texas oder in Kalifornien.

Muss uns das umtreiben? Es muss! Denn nirgendwo wie in den USA, die sich unbeirrt von der Machtdynamik Chinas weiterhin als die erste unter den Supermächten sehen, ist die Aussenpolitik so sehr eine Funktion der Innenpolitik. Also ist es möglich, dass die Aussenpolitik der Schutzmacht der westlichen Welt dem Impuls folgt, der von der Wahl eines Senators in Nord-Dakota ausgeht – je nachdem, wie sich dadurch die Mehrheitsverhältnisse im Kongress verschieben. Es ist wie im berühmten Beispiel aus der Chaostheorie: Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen? Ja, er kann. Denn in Zeiten, wo wir, mehr oder weniger unbemerkt, in den nächsten Kalten Krieg hineingleiten (wegen der Bedrohung Taiwans durch China), kann es plötzlich von vitaler Bedeutung sein, wen die Bevölkerung von Alaska und Arizona ins Repräsentantenhaus wählt oder wer der nächste Senator oder die nächste Senatorin von Idaho oder Iowa ist. Denn das Kippen eines Sessels da oder die Eroberung eines Sitzes dort wird die Frage entscheiden, ob Joe Biden tatsächlich regieren kann oder ob er als Lame Duck seine Zeit im Oval Office däumchendrehend absitzen muss.

Derzeit blockieren zwei Senatoren aus den eigenen Reihen der Demokraten das angedachte Kernstück von Bidens politischer Vision, nämlich die Investitionsprogramme in die marode Infrastruktur einerseits und in Klimaprojekte und Systeme der sozialen Sicherheit andererseits. So, wie Franklin D. Roosevelt sein Land in den 30er-Jahren aus der Weltwirtschaftskrise herausgeführt hat – „deficit spending“ der öffentlichen Hand gemäss dem damals führenden Ökonomen John M. Keynes – will Biden die USA aus der Corona-Stagnation herausführen, den Menschen mehr Kaufkraft und der Gesellschaft mehr Gerechtigkeit geben. Voraussetzung wäre die Zustimmung des Senats, wofür ein geschlossenes Auftreten der demokratischen Fraktion vonnöten wäre.

Das Paket betreffend Infrastruktur (1,7 Billionen Dollar) ist mehr oder weniger in trockenen Tüchern. Dasjenige betreffend Klima und Soziales (3,5 Billionen Dollar) steht jedoch auf tönernen Füssen. Verantwortlich dafür sind zwei Senatoren: Joe Manchin (West-Virginia) und Kyrsten Sinema (Arizona). 3500 Milliarden öffentlicher Investitionen sind für sie jenseits von Gut und Böse. Obwohl Kyrsten Sinema offenbar gelegentlich auch weniger Skrupel hat. Die NZZ raunt angesichts ihres undurchsichtigen Verhaltens offen von Bestechung.

Sollte Bidens Investitionsprogramm scheitern, dann stehen ihm drei Jahre im Amt ohne politische Vision bevor. Dann wird sein anfänglich dezidiertes Covid-19-Management hinter dem Afghanistan-Fiasko verblassen. Und dann bleibt abzuwarten, ob uns noch jemand vor der Unsäglichkeit einer zweiten Trump-Präsidentschaft bewahren kann. Der Lügenbaron aus Miami bringt sich derzeit genussvoll in Stellung. Unablässig sein Mantra von der gestohlenen Wahl herunterleiernd, baut er, vergleichbar mit Twitter, seinen eigenen Social-Media-Kanal unter dem Namen „Truth“ auf. Und wie wenn das nicht schon genügend absurd wäre, soll die einzelne Textnachricht – analog zum „Tweed“ – ebenfalls ein „Truth“ sein. Das hätte nicht einmal George Orwell mit seinem „Newspeech“ erfinden können.

Die bevorstehenden Gouverneurswahlen in Virginia werden einen Hinweis darauf geben, wie die Dinge stehen. Vor einem Jahr gewann Biden hier mit zehn Prozent Vorsprung; dementsprechend schien der demokratische Kandidat Terry McAuliffe einem sicheren Sieg entgegenzusteuern. Seit Ende August ist sein Vorsprung auf den republikanischen Gegenkandidaten Glenn Youngkin aber auf eine statistische Zufälligkeit geschmolzen. Was das bedeutet, hat die Süddeutsche Zeitung unlängst so formuliert: Die Wahl in Virginia sei das „Referendum über eine mögliche Rückkehr von Donald Trump“. Und das angesichts eines neuen globalen Kalten Krieges, in welchem die Unversehrtheit Taiwans das zu schützende Symbolgut sein wird.

„Checks and Balances“ heisst das amerikanische System der gegenseitigen Kontrolle der staatlichen Gewalten. Die Verfassungsväter haben an vieles gedacht. Aber nicht daran, dass ein megalomanischer Irrläufer zum zweiten Mal an die Tür des Weissen Hauses klopfen wird. Beim ersten Mal hatten wir Glück. Ob wir uns darauf auch in einem zweiten Mal verlassen könnten, ist höchst zweifelhaft. Wir gehen gefährlichen Zeiten entgegen. Der Flügelschlag eines Schmetterlings könnte tatsächlich einen Tornado auslösen.

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