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Ahistorische Selbstbeweihräucherung

Autorenbild: Reinhard StraumannReinhard Straumann

«Die Geschichte ist die Summe aller Lügen, auf die man sich im Laufe der Zeit geeinigt hat.» So sah es Napoleon. Er musste es ja wissen, war er selbst doch sowohl Subjekt als auch Objekt der von ihm definierten Prozesse. Anschauungsunterricht, diese Begriffsbestimmung des grossen Imperators zu verifizieren, bot sich anlässlich der Auschwitz-Gedenkfeier vom vergangenen Montag. Am 27. Januar 1945 waren es die Truppen der Roten Armee gewesen, die die Konzentrationslager der Deutschen in der Nähe von Krakau (es gab deren mehrere) befreiten, darunter das berüchtigte Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Grund genug für einen ausufernden Gedenkanlass, an welchem die Nachfahren der Täter mit den Nachfahren der Opfer in einer Reihe sassen und solidarisch Kippa trugen. Wie schön!

Die Befreier waren also die Truppen der Roten Armee gewesen, die Sowjets, die Russen. Waren sie, die, nebst den Opfern, das erste Recht auf eine Einladung gehabt haben sollten, auch eingeladen? Natürlich nicht, denn mittlerweile hat sich Europa darauf geeinigt, dass die Russen die Bösen sind. Es war bei weitem nicht die einzige Absurdität, die diesem Akt von Erinnerungskultur (besser: dieser Erinnerungsverfremdung…) anhaftete.

Bleiben wir zunächst bei den Nachfahren der Täter, den Deutschen. Wie viele Grossväter der anwesenden deutschen Politprominenz, vom Bundespräsidenten über den Bundeskanzler und den Vizekanzler, von der Bundesratspräsidentin bis zur Kulturstaatsministerin etc. etc. waren damals Sturmbannführer gewesen, Mitglieder der SS, Offiziere der Reichswehr, Mörder und Massenmörder? Es wäre an sich egal, wenn wir ihnen die in die Gesichter geschriebene Betroffenheit bedenkenlos abnehmen könnten.

Das aber fällt uns schwer. Dabei zweifeln wir nicht an der Aufrichtigkeit, mit welcher die Herren Steinmeier, Scholz, Habeck, die alle (wie sich einst Helmut Kohl ausgedrückt hatte) «in der Gnade der späten Geburt» stehen, sich gefragt haben mochten: Wie hat das geschehen können, dieses monstruöseste aller Verbrechen der Menschheitsgeschichte? Aber offenbar war keine einzige, noch so anrührende Ansprache eines Zeitzeugen befähigt, in Regierungspersonen ausreichend Zweifel zu sähen, ob es richtig sei, dem Staat Israel Waffen zu liefern, Waffen ohne Ende, womit an neuen Opfern vor unser aller Augen ein Genozid vollzogen wird. Offenbar ist die Staatsräson ein Schalter, mit welchem der einzelne Politiker sein Gewissen ein- und ausknipsen kann.

Womit wir bei den Opfern wären, den Opfern von damals. Soweit ich die Berichterstattung über die Auschwitz-Gedenkfeierlichkeit überschauen kann, habe ich niemanden gefunden, absolut niemanden, der (oder die) es gewagt hätte, auf den Widerspruch aufmerksam zu machen, dass die Opfer von damals – unter gänzlich anderen Umständen – zu Tätern von heute geworden sind. Offenbar wollte keiner die Andacht durch einen Tabubruch stören. Es bleibt mir deshalb keine Wahl, als es selbst zu tun. Die Vorwürfe, die ich mit dafür einhandle, sind ebenso klar wie lächerlich. Auch wenn die Verwechslung von Israel-Kritik mit Antisemitismus zu einem fixen Narrativ des Mainstreams geworden ist, so bleibt sie dennoch eine Verwechslung, und zwar eine fatale, nämlich eine interessensgesteuerte.

Natürlich anerkennen wir, dass kein Volk auf Erden im Laufe der vergangenen 2000 Jahre mehr Unrecht erdulden musste als das Volk der Juden. Und natürlich anerkennen wir demzufolge, dass dieses Volk angesichts gegenwärtig vorhandener Bedrohungen in der Thematik der Selbstverteidigung eine höhere Sensibilität entwickelt (und entwickeln darf) als jedes andere Volk. Aber entbindet das die Exponenten der Politik des Staates Israel von jeglicher Humanität, jeglichem Rechtsempfinden und jeglichem Bewusstsein gegenüber der eigenen Geschichte? Die schreckliche Attacke der Hamas vom 7. Oktober 2023 wurde von der israelischen Regierung Netanjahu und ein paar Faschisten innerhalb des Kabinetts zum Anlass genommen, den Gaza-Streifen zu zerstören und 50'000 Kinder und Frauen zu töten (von den Männern ist hier gar nicht die Rede, weil Männer pauschal als Terroristen gelten und als solche zum Abschuss freigegeben sind). Hat das mit Selbstverteidigung etwas zu tun? Oder eher mit der ethnischen Säuberung, von welcher Donald Trump mittlerweile ganz offen spricht? Und hat irgendeiner der Auschwitz-Überlebenden in seiner Ansprache gesagt: So nicht?

Dass die Russen nicht eingeladen waren, wurde bereits erwähnt. Ihr Präsident Putin ist (wie Netanjahu) vom Internationalen Strafgerichtshof steckbrieflich ausgeschrieben wegen des Angriffskrieges gegen die Ukraine. Ob an die damaligen Siegermächte USA und Grossbritannien Einladungen ergangen sind, entzieht sich unserer Kenntnis. Juristisch hätte nichts dagegengesprochen, denn gegen deren frühere Präsidenten und Premierminister liegen keine Strafanträge aus Den Haag vor, obwohl die sich schlimmerer Angriffskriege schuldig gemacht haben. Und obwohl Grossbritannien bereits 1943 die Möglichkeit gehabt hätte, die Krematorien in Auschwitz und die Logistikanlagen zu bombardieren, wodurch man hunderttausende Juden hätte retten können. Aber auch die angelsächsische Welt hatte halt ihren eigenen, hausgemachten Antisemitismus.

Sicher ist nur, dass – nebst Gastgeber Polen – auch die Ukraine Einladungen erhalten hat. Hat sich irgendein polnischer Redner daran erinnert, dass 1946, sehr bald nach Kriegsende, in Polen antisemitische Pogrome gegen Juden stattgefunden haben, die Auschwitz überlebt hatten und noch immer in der Gegend lebten? Und hat einer der deutschen Redner daran erinnert, dass in der Ukraine zahlreiche Faschisten und Nationalsozialisten aus der Kriegs- und frühen Nachkriegszeit nach wie vor als Nationalhelden gelten und gefeiert werden?

Auschwitz-Gedenkanlässe sind wichtig – nie darf vergessen werden, was geschehen ist. Aber was am Montag dieser Woche stattgefunden hat, ist kein Gedenkanlass, sondern eine ahistorische Selbstbeweihräucherung. Die schadet mehr, als sie nützt.

 
 
 

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