Exakt 20 Jahre danach gibt es viel zu lesen über 9/11. Gewinnbringend davon ist kaum etwas: Augenzeugenberichte, die den Schrecken auffrischen, Interviews mit Zeitzeugen, Politikern, Historikern. Aber überall gilt: Im Westen nichts Neues. Keine neuen Erkenntnisse, keine neuen Dokumente, keine neuen Hypothesen. Zwar ist der offizielle Untersuchungsbericht, der auf erfolterten Aussagen von Guantanamo-Häftlingen beruht, das Papier kaum wert, auf das er gedruckt wurde. Aber niemand hat den Mut, die Zweifel auszusprechen. Denn über allen Zweiflern schwebt das Damoklesschwert der Verschwörungstheorie. In diese Ecke möchte sich niemand gedrängt sehen. Kein Lehrstuhlinhaber wagt es, ein Seminar auszuschreiben und den Untersuchungsbericht mit seinen Studierenden gegen den Strich zu lesen. Es wäre aber mehr als dringlich.
Der Untersuchungsbericht von Kean/Hamilton hat 600'000 Dollar gekostet. Zum Vergleich: jener nach der Clinton-Lewinsky-Affäre war dem Kongress 43 Millionen Dollar wert… Kein Wunder wird um alle heiklen Fragen ein grosser Bogen geschlagen. Wie erklärt man das Totalversagen der Luftraum-Schutzbehörde, die vier Flugzeugentführungen innerhalb von 45 Minuten einfach zuschaute? Weshalb gab es ein Insiderwissen im Börsenhandel, mit dem ein paar Spekulanten 30 Millionen Dollar verdienten – aber CIA und FBI wussten nichts? Weshalb fielen beim World Trade Center drei Türme zusammen, obwohl nur in zwei ein Flugzeug gerast war? Vor zwei Jahren hat eine neue Studie von Bauingenieuren der Alaska Fairbanks University bewiesen: WTC-7 wurde gesprengt. Warum interessiert das keinen?
Stattdessen lesen wir überall die Standardfrage: Wissen Sie noch, wo Sie waren, am 9/11? Ja, wir wissen es. Zur Erkenntnis trägt dies aber gar nichts bei. Statt kritisches Bewusstsein erhalten wir aufgewärmte Emotion. Das hilft, unangenehme Fragen zu vermeiden.
Deshalb frage ich jetzt: Wissen Sie noch, wo Sie waren an 9/11, aber des Jahres 1973? Nein, das wissen wir nicht mehr. Dieses Datum hat aber eine ebensolche Tragweite wie 9/11 2001. Die – rein zufällige – Übereinstimmung des Kalendertages lädt jedoch ein, der Sache auf den Grund zu gehen. Und siehe da: Es gibt neue Erkenntnisse! Am Dienstag, 11. September 1973, wurde in Chile die Regierung des demokratisch gewählten Präsidenten Salvador Allende gestürzt. Eine Militärjunta um General Augusto Pinochet übernahm die Macht. 20'000 bis 30'000 Menschen wurden in der Folge verhaftet, gefoltert, ermordet. Der Putsch war in Washington durch das State Departement (Aussenminister Henry Kissinger) vorbereitet und durch die CIA geplant und dilettantisch genug umgesetzt worden. Der Zweck war die Wahrung der Interessen amerikanischer Kupferkonzerne und der ITT, die 70 Prozent an der chilenischen Fernmeldegesellschaft hielt, denn Allende wollte verhindern, dass alles in Chile erarbeitete Geld nach den USA abfliesst. Es war sein Todesurteil. Sofort nach dem Putsch gestaltete Pinochet auf Empfehlung des Ökonomen Milton Friedman von der Universität Chicago schockartig die Wirtschaft um. Deregulierung und Privatisierung im grossen Stil waren angesagt. Die amerikanischen Konzerne sahnten ab.
An 9/11 1973 war ein gewisser Donald Rumsfeld daran, seine Karriere als Berater des Präsidenten Richard Nixon und als Politiker im Verteidigungsministerium voranzutreiben. Er war Nixons Assistent, sein persönlicher Berater sowie Botschafter bei der NATO. Der persönliche Assistent von Rumsfeld wiederum hiess Dick Cheney. Gemeinsam beobachteten sie die Entwicklung in Chile, wirkten daran mit und sahen aus nächster Nähe, wie sich durch die Schockstrategie Milton Friedmans (den beide uneingeschränkt bewunderten) die Wirtschaft eines Landes ausbeuten lässt.
Jahre später, nach dem Ende des Kalten Krieges, waren sie die Begründer eines Think-Tanks namens «Project for the New American Century», wo die Köpfe rauchten über der Frage, wie sich Amerikas Vormachtstellung über die Welt aufrechterhalten liesse, nachdem der Eiserne Vorhang gefallen war. Bereits damals, 1997, wurde der Krieg gegen den Irak geplant. Als es gelungen war, George W. Bush ins Präsidentenamt zu hieven, war er beschlossene Sache. Man brauchte nur noch einen Anlass, um loszuschlagen.
9/11 2001 schien diesen Anlass zu bieten. Sofort wurde Osama bin Laden als Drahtzieher ausgemacht und von der Regierung behauptet, er stecke mit Saddam Hussein unter einer Decke. Ungeschickterweise waren diese Behauptungen nichts als Schall und Rauch. Der Irak entfiel vorerst als Ziel der amerikanischen Schläge. Afghanistan, das bin Laden Unterschlupf gewährt hatte, musste herhalten. Aber ein Jahr später begannen Bush, Cheney, Rumsfeld und Aussenminister Powell erneut das Trommelfeuer gegen den Irak. Man erfand die Mär von den Massenvernichtungswaffen Saddams und stampfte 2003 eine «Koalition der Willigen» aus dem Boden, damit endlich der ersehnte, aber abgrundtief völkerrechtswidrige Krieg gegen den Irak stattfinden konnte. Er hat eine Million Menschen das Leben gekostet. Und kaum waren die Waffenhandlungen abgeschlossen, fand innerhalb von zwei Wochen (!) statt, was Rumsfeld und Cheney 28 Jahre zuvor in Chile gelernt hatten: der schockartige Ausverkauf der irakischen Wirtschaft. Alles, womit sich Geld machen liess, wurde nach den USA verscherbelt. Wenn es einen Sieger aus 9/11 gibt, dann waren das die amerikanischen Konzerne, die Rüstungsindustrie und insbesondere Halliburton, die Firma von US-Vizepräsident Dick Cheney.
Es würde sich halt doch lohnen zu fragen wie das war damals an 9/11. 1973 und 2001.
Einen ausführlichen Text von Reinhard Straumann über die Zusammenhänge zwischen dem Militärputsch in Chile 1973 und der späteren Regierung von George W. Bush mit Rumsfeld, Cheney und Konsorten finden Sie hier:
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